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Aktuelle Nachrichten | Keßler, Bettina | 04.03.2024 – 01.04.2024

Poeten sind unsterblich

Wunderbare Hommage an Charles Aznavour zum 100. Geburtstag von Stephan Hippe

Stephan Hippe (links) begeisterte in einer perfekt inszenierten Hommage unter anderem im virtuellen Duett mit Charles Aznavour (rechts auf der Leinwand). (Foto: Bettina Keßler)
Stephan Hippe (links) begeisterte in einer perfekt inszenierten Hommage unter anderem im virtuellen Duett mit Charles Aznavour (rechts auf der Leinwand). (Foto: Bettina Keßler)

„Wie kommt es, dass französische Männer so viel Glück in der Liebe haben?“ wendet sich Kermit der Frosch vertrauensvoll an Charles. Der in Paris geborene Charles Aznavour, Sohn armenischer Auswanderer, weiß das: „Französisch ist die Sprache der Liebe. Wenn du ein großer Ladies-Man werden willst, lern Französisch!“

Der pädagogisch wertvolle Ausflug in die Muppet Show, mit der unüberhörbaren Botschaft „Lern Französisch!“, ist nur eine der vielen Kuriositäten, die Stephan Hippe zur Biografie des Dichters, Komponisten und Chansonniers ausgegraben hat und im Verlauf seiner opulenten Hommage zum 100. Aznavour-Geburtstag dem Publikum im Klosterhof präsentiert. „Charles und wie er die Welt sah“ wurde von Lauffen im Rahmen des deutsch-französischen Kulturjahrs eingeladen. Am Ende wird der Hamburger Künstler für die über zweistündige, kurzweilige Performance mit stürmischem Applaus gefeiert.

Für Stephan Hippe war Freitag der 6. April 2001 ein Schicksalstag. Das Ticket für das Aznavour-Konzert im Nikaia (Nizza) hat er aufgehoben, projiziert das Beweisstück für sein Schlüsselerlebnis groß an die rückwärtige Leinwand. Um Hippe, von Natur aus frankophil und dem Gesang, insbesondere dem Chanson zugetan, war es geschehen. „Du bist ein Kapitel, das mich prägt, du bleibst ein Maß, mit dem man misst“ schmettert er im Auftaktsong.

Hippe recherchiert, korrespondiert und dokumentiert alles Greifbare zu Aznavour. Dessen Karriere war zunächst steinig. Er sei zu klein, zu hässlich und habe keine Stimme warf man ihm vor. Zwölf Jahre lang jagt ein Misserfolg den nächsten. Man nannte ihn schon „King of Flops“. Erst als er den Vorschlag seiner Freundin Édith beherzigt und sich seinen „Zinken“ begradigen lässt, nimmt sie ihn mit auf Tournee in die USA – „if you can make it there, you’ll make it everywhere“.

Genialer Kniff: Hippe langweilt nicht mit Chronologie oder Aufzählungen, drei Ehen, sechs Kinder, acht Sprachen, 1000 Songs, Auftritte in 94 Ländern… und dies alles in 94 Jahren! Er lässt Charles Aznavour als Ich-Erzähler auftreten. Plötzlich ein gefragter Künstler, immer wieder klingelt das Telefon – damals ausschließlich Festnetz – verfolgen ihn Anrufer bis in seine Garderobe. Er kleidet sich elegant wie ein Franzose, unterwirft sich aber keiner Mode. Er beherrscht Jabbertalk und Scat-Gesang des Jazz ebenso gut wie den Kosakentanz Kasatschok - typisch sind dafür die vor der Brust gekreuzten Arme und die sogenannte ‚Prisjadka‘, der Wechselsprung zwischen gestrecktem und angewinkeltem Bein in tiefer Hocke. Nicht zuletzt ist seine Schlagfertigkeit bewundernswert. "Mein Herr, es muss sehr schwer sein, ein Genie zu sein!", beantwortet er lässig: "Ja, aber vor allem für die Anderen!"

Ist aus dem „King of Flops“ insgeheim ein kultureller Hoffnungsträger zwischen den Fronten des Kalten Kriegs geworden?
Authentische Gespräche mit Kollegen wie Charles Trenet, Georges Brassens und Jacques Brel synchronisiert Hippe quasi lippensynchron mit neuem Text. Brel beschimpft ihn als Warmduscher, die Piaf mault in einer verwackelten Schwarz-weiß-Doku in perfektem Deutsch. In virtuellen Dialogen unterhält sich Hippe mit dem Protagonisten auf der Projektionsfläche. Oder zum Meeresrauschen auf der Leinwand verschmilzt Trenets Hit „La mer“ mit Brels „Le plat pays“ zu irritierend schöner Bild-Text-Poesie. Diverse Collage- und Animationstechniken die Hippe mit Begeisterung am Spiel zwischen den Ebenen ausreizt, sind ein virtuoser posthumer Geburtstagsgruß. Bravo!

„You are the one for me, for me, for me, formidable! You are my love very, very, very, véritable“, bekennt Hippe, der für den Geschmack mancher Besucherinnen, mehr im französischen Original als in deutscher Übersetzung hätte singen sollen. Hippe möchte jedoch sicherstellen, dass Aznavours Texte wie beispielsweise die Homo-Hymne „Comme ils disent“, endlich verstanden werden.
Kurze Rückblende in die Muppet Show: Dummerweise spricht Miss Piggy kein Wort Französisch, trotzdem muss der arme Frosch zuschauen, wie seine Angebetete – Französischkenntnisse hin oder her – liebeshungrig über Charles Aznavour herfällt. Dichter bleiben eben unsterblich. Oder wie Emmanuel Macron in einer Aznavour-Doku sagt: „En France les poètes ne meurent jamais“.

Text: Leonore Welzin