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Hölderlin-Freundeskreis

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Hölderlin-Freundeskreis | Waldenberger, Klaus-Peter | 04.10.2025

Von Knaben, Göttern und Gespenstern

Karl-Josef Kuschel liest im Hölderlinhaus

Am Ende des Abends stand die augenzwinkernde Bemerkung eines humorigen Gastes, ob die neben ihm aufgereihten Weingläser eine Kunstinstallation darstellen. Doch um dies herauszufinden, waren die zahlreichen Gäste nicht ins Hölderlinhaus gekommen.

Vielmehr lauschten sie mit Interesse den Ausführungen des Tübinger Theologen Karl-Josef Kuschel, der auf Einladung des Hölderlinfreundeskreises einen Baustein zum Verständnis Hölderlins hinzufügte: ‚Hölderlin verstehen - von der Revolution der Franzosen und den Göttern der Griechen‘.

‚Da ich ein Knabe war‘ begann er zitierend mit einem zu Lebzeiten Hölderlins unveröffentlichten Gedicht seinen Vortrag und zog überraschende autobiographische Parallelen. Als ‚68er‘ stößt Kuschel zu Beginn seines Studiums der Germanistik und der Katholischen Theologie in Tübingen erstmals auf Hölderlin. Der Zeitgeist ringt damals wie schon 1789, als Hölderlin im Stift sein Studium beginnt, um politische Freiheiten und wendet sich vehement gegen die etablierten Systeme. An der Universität Tübingen erfolgt gerade ein Denkumbruch in der Auslegung der Hölderlindichtung. Man müsse ihn republikanisch-politisch im Geist der Französischen Revolution lesen, ist die für junge Menschen begeisternde neue Auslegung. Der französische Germanist Pierre Bertaux löst mit diesem Denkvorstoß eine Bewegung aus, die Hölderlin aus seiner Vereinnahmung durch nationalsozialistische Auslegung, durch eine unpolitisch-gefühlsbetonte Griechenland- und Naturschwärmerei und gleichzeitig durch eine philologische Pedanterie befreien soll.

Je tiefer man in Hölderlins Dichtung eindringt, wird bewusster: seine Dichtungen gehen in keiner Tradition auf. Hölderlins Enthusiasmus für revolutionäre Ideen, für die Ideale einer großen Umgestaltung aus dem Geist einer neuen Religion, einer neuen Kunst, einer neuen Politik gehen weit über literarischen Ehrgeiz hinaus. Seine Revolution ist nicht der Schrecken, den die Französische Revolution mit sich brachte. Hölderlins Ideal ist die geistige Erneuerung der Gesellschaft auf der Basis von Schönheit, Liebe und Durchseeltheit der Natur. Dies idealisiert er in einer griechischen Götterwelt.

Eine Ruhebank an Hölderlins Grab auf dem Alten Tübinger Stadtfriedhof lädt zum Verweilen ein. Karl-Josef Kuschel hat diese Einladung in den letzten Jahrzehnten oft angenommen. „Im heiligsten der Stürme falle zusammen meine Kerkerwand, und herrlicher und freier walle mein Geist ins unbekannte Land!“ Wie sind diese Verse zu verstehen? Religiös? Christlich gar? Wo doch Hölderlin an nichts so sehr gelitten hat als unter den klerikal-feudalistischen Verhältnissen, dem protestantischen Dogmatismus und Moralismus?

Christentum erscheint Hölderlin und vielen seiner Generation als eine zunehmend erschöpfte, verbrauchte, institutionell verwaltete Religion ohne inneres Feuer. Die griechische Antike bekommt dagegen eine neue, idealisierte, geradezu religiöse Anziehungskraft. Hölderlins Dichtung, das idealisierte Griechenland, die griechische Götterwelt ist sein Gegenentwurf zur realen Wirklichkeit. Sind diese beiden Welten zu versöhnen? Können die Zwiespälte der Versöhnbarkeit von Christentum und Antike, von Programm und Praxis, Idee und Realität, Ästhetik und Wirklichkeit, Kunst und Gesellschaft überwunden werden? Hölderlin wird sie nicht lösen können, aber in seiner Dichtung dagegen anschreiben. Ein Beispiel und Ausdruck des bleibenden Zwiespalts zwischen der Liebe zu Christus und der Liebe zu den Göttern findet sich in ‚Der Einzige‘: „Ich weiß es aber, eigne Schuld / Ists! Denn zu sehr, / O Christus! häng` ich an dir, / Wiewohl Herakles Bruder / Und kühn bekenn` ich, du / Bist Bruder auch des Eviers“ (Weingott Dionysos).

Das bittere Fazit lautet: So wie Hölderlin in seiner politisch-poetischen Programmatik und in seinen privat-persönlichen Beziehungen scheitert, scheitert er auch im Versuch einer neuen Religion der Schönheit und Allversöhnung. Der Nazarener neben Dionysos war eine grandiose Vision, musste aber in seiner Widersprüchlichkeit zerbrechen.

„Die Zeiten sind nicht danach und die Verhältnisse sind nicht so“, zitiert Kuschel Bertolt Brecht. Und auch heute sind die Zeiten nicht so, dass man Hölderlin in seiner Größe und Bedeutung in der Gesellschaft anerkennt.

Aber wie sollten wir denn auch Hölderlins Beschwörung der Götter und Göttinnen des alten Griechenlands ernst nehmen, wenn wir drauf und dran sind, selber als ‚Homo Deus‘ an ihre Stelle zu treten? „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, schreibt schon Novalis.

„Und ich frage mich“, endet der Theologe mit germanistischer Expertise, „ob das, was unsere entgötterte Welt mittlerweile unausweichlich beherrscht, nicht Gespenstern zum Verwechseln ähnlichsieht“.

Christiane Waldenberger